Wer dieser Tage politische Debatten verfolgt, kommt an einem Wort nicht vorbei: Ideologie.
Politiker des nationalistischen
bis rechtsextremen Spektrums brandmarken viele Ideen ihrer politischen Gegner*innen mit dem Begriff, der in der heutigen Zeit geradezu inflationär gebraucht wird.
Dies ist Anlass genug, der
Bedeutung des Wortes auf den Grund zu gehen und zu erklären, warum die unbedachte Verwendung den demokratischen Diskurs gefährdet.
Definition des Begriffs "Ideologie"
Das Wort bezeichnet systematische Sets von Glaubenssätzen, Prinzipien, Werten und Vorstellungen, die die
Grundlagen für politische, soziale und philosophische Lehren bilden.
Ideologien durchdringen verschiedene Ebenen des menschlichen Denkens und Handelns, von individuellen Überzeugungen bis hin zu
weitreichenden gesellschaftlichen Bewegungen. Sie beschreiben zumeist umfassende Visionen und Weltanschauungen, die die Gesellschaftsordnung, politische Strukturen, wirtschaftliche Systeme,
soziale Beziehungen und andere Aspekte des menschlichen Lebens innerhalb einer Gesellschaft beeinflussen.
Bekannte Ideologien sind der
Sozialismus, der Kommunismus, der Faschismus und der Anarchismus.
Rechte Ideologien und linke Ideologien im Wandel der Zeit
Die Begriffe "rechts" und "links" entsprangen der Französischen Revolution im Jahr 1789. Die Mitglieder der
Nationalversammlung befanden sich je nach ihrer politischen Ausrichtung entweder rechts oder links vom Rednerpult des Präsidenten der Versammlung. Abgeordnete, die die traditionellen Hierarchien
unterstützten und eine weiterhin starke Rolle der Monarchie befürworteten, saßen auf der rechten Seite. Wer progressiver eingestellt war und nach grundlegenden Veränderungen des
gesellschaftlichen Systems strebte, befand sich links des Versammlungspräsidenten.
Heute steht "rechts" für konservative, nationalistische oder marktorientierte Positionen, während "links" eher progressive,
sozialistische oder sozial orientierte Ansichten beschreibt.
Rechtsextreme Ideologien stellen eine radikalisierte Form dar und zeichnen sich durch extremistische Ansichten aus, die auf
Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, ethnisch-nationaler Überlegenheit und Gewaltbereitschaft basieren. Der Rechtsextremismus lehnt oft demokratische Prinzipien und Menschenrechte ab und strebt eine
autoritäre Herrschaftsform an.
Ideologie als Kampfbegriff
Im Verlauf der Jahrzehnte hat sich das Wort zu einem Kampfbegriff entwickelt, den verschiedene Personen nutzen, um
die Ansichten des politischen Gegners zu diskreditieren. Ein Blick auf zwei Beispiele aus der Geschichte verdeutlicht, warum das Wort "Ideologie" heute deutlich negativ konnotiert
ist:
In
Deutschland war der Nationalsozialismus stark ideologisch geprägt. Er definierte die vermeintliche Überlegenheit der "arischen Rasse" und des "deutschen Volkes" und leitete daraus die
Legitimation für einen Völkermord ab, der in der Menschheitsgeschichte ohne Beispiel ist. Die nationalsozialistische Ideologie führte zum Zweiten Weltkrieg und zur systematischen Ermordung von
Bevölkerungsgruppen. Als das NS-Regime kapitulierte, hatten fast 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren.
In anderen Teilen der Welt setzten
Staatschefs "linke" Ideologien durch, bekannte Beispiele sind die Sowjetunion unter Josef Stalin und das kommunistische China unter Mao Zedong. Auch in diesen Staaten führte die Durchsetzung der
Weltanschauung zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und Millionen Todesopfern.
Wie die Nutzung des Begriffs "Ideologie" den heutigen politischen Diskurs vergiftet
Wer heute Maßnahmen zum Klimaschutz und/oder ein menschenwürdiges Asylrecht fordert, sieht sich häufig dem Vorwurf ausgesetzt, er würde eine "linke
Ideologie" umsetzen wollen. Vor allem im Internet geführte politische Debatten münden oft in abstrusen Vergleichen mit dem Stalinismus oder dem "Großen Sprung nach vorn" im maoistischen China.
Manche Kommentator*innen sprechen von "Grünen Khmer" und setzen damit Personen, die Klimaschutzmaßnahmen fordern, mit den Schergen des kambodschanischen Terrorregimes unter Pol Pot
gleich.
Die inflationäre Nutzung des Begriffs ist aus mehreren Gründen
problematisch:
- Die inflationäre Verwendung des Begriffs verwässert dessen Bedeutung. Wenn Politiker*innen und Bürger*innen den Begriff auf jede beliebige Position oder Meinung anwenden, vermischen sich die Beschreibung umfassender gesellschaftspolitischer Ziele und Visionen mit der Bewertung individueller Ansichten und Wertvorstellungen.
- Wer dem politischen Gegner vorwirft, eine Ideologie zu verfolgen, verkürzt und vereinfacht den Diskurs. Anstatt konkrete politische Ansichten und Positionen zu diskutieren, werden diese als "ideologisch" abgetan und dadurch a priori entwertet. Dies erschwert den Meinungsaustausch, der in einer pluralistischen Demokratie zur Entscheidungsfindung notwendig ist.
- Die pauschale Diskreditierung politischer Ideen als "Ideologie" vermengt verschiedene Weltanschauungen, ohne zu differenzieren. Dadurch geht die Fähigkeit verloren, komplexe Probleme und Herausforderungen zu beschreiben, zu bewerten und Lösungsansätze zu entwickeln.
Menschenrechte und Klimaschutz sind keine ideologischen Fragen
Wer die Einhaltung von Menschenrechten und den Schutz des Klimas fordert, hängt keinen "linken Ideologien" an und versucht erst recht nicht, eine Diktatur gegen
den Willen der Bevölkerung zu etablieren.
Menschenrechte sind universelle Normen, die auf der Anerkennung der angeborenen Würde und den unveräußerlichen Rechten aller Menschen beruhen. Sie sind in
internationalen Abkommen und Rechtsnormen verankert, die die meisten Staaten der Erde anerkannt haben. Die Menschenrechte bilden einen ethischen Rahmen, der darauf abzielt, die Würde und Freiheit
aller Menschen zu schützen. Wer die Einhaltung dieser Rechte als "Ideologie" brandmarkt, äußert dadurch implizit, dass er die Menschenwürde als verhandelbar und als eine Weltsicht unter vielen
ansieht. Diese Gleichgültigkeit gegenüber universellen Normen besteht jedoch regelmäßig nur, solange die eigenen Machtstrukturen unangetastet bleiben und Menschenrechtsverletzungen nicht die
eigene Person betreffen.
Ebenso ist die Forderung nach Maßnahmen zum Schutz des Klimas keine ideologische Frage. Ideologien sind Glaubenssätze, die beschreiben, wie eine ideale
Gesellschafts- und Weltordnung aussehen sollte. Der Inhalt basiert auf dem Welt- und Menschenbild ihrer Begründer*innen und Anhänger*innen.
Der Klimawandel ist hingegen eine wissenschaftlich gesicherte Tatsache. Forscher können mithilfe von Simulationen abschätzen, welche Auswirkungen die Erderwärmung
auf die Ökosysteme und somit auf die Menschen haben wird.
Die Notwendigkeit von Klimaschutzmaßnahmen ist daher keine Frage der Weltanschauung und der persönlichen Einstellungen, sondern ergibt sich aus wissenschaftlichen
Erkenntnissen, die objektivierbar sind.
Wissenschaft ist überprüfbar, da die veröffentlichten Arbeiten einer kritischen Prüfung durch Fachkolleg*innen unterliegen.
Der Klimawandel ist keine Glaubensfrage, sondern eine wissenschaftlich belegte Realität, die kontinuierlich durch erhobene Daten bestätigt wird.
Kommentar schreiben