Noch immer sind traditionelle Geschlechterrollen und Zuschreibungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit tief in unserem Alltag verankert. Teilweise sogar tiefer, als man es selbst einschätzt. Denn
an viele dieser Rollen sind wir unser ganzes Leben gewöhnt und bekommen sie ständig von unseren Familien, unserer Umgebung oder der Gesellschaft vorgelebt. Um so wichtiger ist es, diese kritisch
zu hinterfragen und aufzubrechen.
Kritische Männlichkeit ist nicht nur im privaten, sondern besonders auch im beruflichen Kontext entscheidend, in dem andere Hierarchien und Machtdynamiken wirken. Aktuell wird weitestgehend
unterschätzt, welche Auswirkungen sich gerade hier auf die Zusammenarbeit und Effizienz ergeben. Davon profitieren nicht nur Frauen, sondern auch Männer gleichermaßen. Wie man dies in Teams
thematisiert und umsetzt, wird im Folgenden thematisiert.
Entstehungsgeschichte kritischer Männlichkeit
Von den einen wird der Begriff bereits selbstverständlich und im täglichen Sprachgebrauch verwendet. Für andere ist es jedoch mit großen Fragezeichen versehen. Wieder anderen fällt die Abgrenzung
zu Begriffen wie toxischer Männlichkeit schwer. Und wie hängt alles mit dem Feminismus zusammen? Dies und mehr sollte erst einmal geklärt werden, um eine gemeinsame Diskussionsgrundlage
herzustellen.
Das Konzept der kritischen Männlichkeit ist ein relativ neues Forschungsfeld. Es ist im Rahmen der feministischen Forschung entstanden. Diese fokussiert sich schon lange nicht mehr darauf, nur
Diskriminierung von Frauen offenzulegen, sondern die (De-)Konstruktion von Geschlecht und Geschlechterrollen im Gesamten zu betrachten.
Sie ist mit dem Feminismus gewachsen und beweist, dass Feminismus nicht nur das Wohl der Frau im Sinn hat. Im Gegenteil, soll hier hinterfragt werden, welche Erwartungen und Zuschreibungen es an
Männer gibt, und wie wir diese gemeinsam überwinden können.
Was bedeutet ‚Männlichkeit‘?
‚Männlichkeit‘ symbolisiert ein Idealtyp Mann, an den die Gesellschaft bestimmte Erwartungen hat und dem sie bestimmte Eigenschaften und Rollen zuschreibt. Daraus ergeben sich
Handlungsanweisungen und Muster, die uns seit Kindertagen begleiten und tief mit unserer Identität verknüpft sind. Um als ‚echter Mann‘ von der Gesellschaft akzeptiert zu werden, muss man diesen
gerecht werden.
Zu den männlichen Stereotypen zählt zum Beispiel, in jeder Situation Stärke, Souveränität und Dominanz ausstrahlen, keine Angst zu zeigen und sich stets mutig jeder auch noch so unbekannten
Situation zu stellen. Emotionen und Schmerz dürfen nicht nach außen getragen werden, Unsicherheiten dürfen nicht zugegeben werden. Männlichkeit steht für Kontrolle, Führung und in gewissen
Kontexten auch Aggressivität und Gewaltbereitschaft. Männlichkeit bedeutet auch, sich zu jeder noch so komplizierten Sachlage positionieren zu können. Ein selbstkritisches ‚Ich weiß es nicht‘
oder ‚Von diesem Thema habe ich keine Ahnung‘ ist selten eine Antwortmöglichkeit. Männlichkeit bezieht sich nicht nur auf Eigenschaften, sondern auch auf Aussehen. Körpergröße, Bartwuchs,
Muskelanteil oder Kleidungsstil können Beispiele dafür sein. Diese Zuschreibungen lassen sich sowohl im privaten als auch im beruflichen Rahmen finden. Auch kommen die Erwartungen nicht nur von
Männern an sich selbst und an andere Männer, sondern auch von Frauen.
Überwindung von traditionellen Rollenvorstellungen
Kritische Männlichkeit möchte die genannten Muster und Erwartungen überwinden. Sie erkennt die Vielfalt von Männlichkeit an, die nicht in bestimmte Rollen gepresst werden soll und kein Schwarz-Weiß-Denken kennt. Sie ist eng verknüpft mit der Gleichberechtigung der Geschlechter und feministischen Gedanken. Sie erkennt an, dass die genannten Stereotypen sowohl Frauen als auch Männern schaden können. Weiter sollen Männer ermutigt werden, sich selbst zu reflektieren und sich aktiv in den Prozess der Veränderung einzubringen, um bestehende Stereotypen einzureißen und einen vielfältigeren Begriff von Männlichkeit zu schaffen.
Toxische Männlichkeit als Ausgangspunkt
Kritische Männlichkeit weist viel Nähe zum Begriff der toxischen Männlichkeit auf. Toxische Männlichkeit beschreibt und kritisiert jedoch einen Zustand, während kritische Männlichkeit dazu
anregen möchte, dies zu überwinden und ein besseres gesellschaftliches Zusammenleben für Mann und Frau zu erreichen. Toxische Männlichkeit ist oft der Ausgangszustand, an dem reflektierte
Männlichkeit angreift und zum Weiterdenken und kritischen Auseinandersetzen einlädt.
Toxische Verhaltensmuster von Männern gehen ebenfalls auf traditionelle Rollenbilder und Zuschreibungen zurück. Viele von ihnen wurden bereits im vorherigen Abschnitt angesprochen. Zusätzlich
haben sich eine Reihe von Begrifflichkeiten ausgebildet, die toxische Verhaltensmuster gut beschreiben. Dazu zählt zum Beispiel ‚Mansplaining‘: Ein Mann erklärt einer Frau überdeutlich und
bevormundend etwas, ohne zu beachten, dass sie unter Umständen mehr Wissen und mehr Erfahrung auf diesem Gebiet besitzt. Weitere toxische Verhaltensmuster sind, wenn Frauen unterbrochen oder ihre
Argumente herabgewürdigt werden, Vorschläge und Ideen von Frauen als die eigenen präsentiert werden oder Frauen als schwach, emotionsgeleitet oder nicht zu rationalen Entscheidungen fähig
charakterisiert werden. Nicht selten werden Frauen sexualisiert, als Dating- oder Sexobjekt gesehen oder auf ihr Aussehen reduziert.
Toxische Männlichkeit steht für Dominanz und Marginalisierung von Frauen und ist der Inbegriff des Patriarchats. Doch man muss auch sehen, dass es sich oftmals ebenfalls gegen die Männer selbst
richtet. So führt es z. B. dazu, dass sie ihre Emotionen unterdrücken und Dominanz an Stellen vortäuschen müssen, an denen sie es nicht können. Es fördert gesundheitsschädigende Ideale und
gesteigertes Risikoverhalten.
Kritische Männlichkeit im beruflichen Kontext
Zu wenig beachtet sind derzeit noch die positiven Folgen, die die kritische Betrachtung von Männlichkeit im beruflichen Kontext mit sich bringt. Schafft man ein Arbeitsklima, in der die Meinungen, Ideen und Argumente von Frauen und Männern gleichberechtigt sind, der Gedankenaustausch auf Augenhöhe und ohne Unterbrechungen geschieht und Frauen das Gefühl vermittelt wird, dass auch sie in der ersten Reihe das Projekt voranbringen können, entsteht eine neue Dynamik und Produktivität. Bisher ungesehene Talente werden gefördert, neue Formen der Zusammenarbeit entstehen und auf allen Seiten entsteht Ownership. Wertschätzung im beruflichen Kontext (verbal, öffentlich und finanziell) ist oftmals so wichtig und darf nicht unterschätzt werden. Mit der Einführung reflektierter Männlichkeit im Team wird auch der Abbau sexueller Kommentare und Übergriffe gefördert.
Wie kann kritische Männlichkeit in Teams umgesetzt werden?
Alle Teammitglieder sollten sich zunächst mit dem Konzept auseinandersetzen. Dies geschieht am besten in einer gemeinsamen Fortbildung oder in einem Workshop mit einer Expertin oder einem
Experten zu diesem Thema. In diesem Fall können direkt alle Fragen an eine Person gestellt werden, die Expertise mitbringt, aber im weiteren Verlauf keine Rolle im eigenen Team hat. Für den
weiteren Prozess ist es entscheidend, dass sich an dieser Stelle alle abgeholt fühlen und eine gemeinsame Definition ersteht. Im besten Fall sollte diese auch schriftlich festgehalten werden und
an einer Stelle hinterlegt sein, an der alle Mitarbeitenden auch im Nachgang noch Zugriff haben.
Im Rahmen dieses Workshops sollte ein safe space geschaffen werden, der es möglich macht, sich offen und respektvoll über die Zustände und Verhaltensmuster im Team zu unterhalten, ohne berufliche
Konsequenzen zu befürchten. Durch den Moderator oder die Moderatorin kann dies entsprechend gesteuert werden. Dabei können Themen zur Sprache wie Kommunikation, Redezeit in Diskussionen,
Bezahlung, Wertschätzung, Auftreten gegenüber Führungspersonen u. v. m. zur Sprache kommen.
Zuletzt sollte man sich darauf verständigen, wie die zukünftige Zusammenarbeit gestaltet werden soll. Dazu kann es hilfreich sein, Regeln, Wünsche oder Leitlinien zu verfassen. So wird es auch
später möglich, sich darauf zu berufen und dies entsprechend einzufordern. Rechtsschaffenspflicht und Verantwortlichkeit sind hier die Stichwörter.
Hat man ein besonderes Problemfeld in der Zusammenarbeit identifiziert, sollten konkrete Maßnahmen beschlossen werden. Haben im Team-Meeting beispielsweise die Männer einen viel größeren
Redeanteil, kann es hilfreich sein, die Redezeit zu deckeln oder mit einer Art ‚Blitzlicht‘ alle der Reihe nach aufzufordern, ihre Meinung mitzuteilen.
Zusammenfassung zu kritischer Männlichkeit in Teams
Kritische Männlichkeit ist es ein wirkungsvolles Mittel, die Gleichberechtigung im Team zu fördern, die Stellung und Wertschätzung der weiblichen Team-Mitglieder zu erhöhen und den Männern zu ermöglichen, einen gesünderen Umgang mit ihren Emotionen und ihren zugeschriebenen Rollenbildern zu haben. Eine gemeinsame Auseinanderersetzung und ein ehrlicher Lernprozess sind entscheidend, bestehende Strukturen und Machtverhältnisse zu identifizieren und Regeln für die zukünftige Zusammenarbeit festzulegen. So entsteht nicht nur eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die auch dazu führt, dass der ständigen Sexualisierung von Frauen entgegengehalten wird.
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